…und da ging der letzte

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Jerry Lee Lewis. Es liegt wohl am natürlichen Lauf der Dinge, dass wir aus dem Nachrufe lesen gar nicht mehr herauskommen. Bei all den aktuell kursierenden Würdigungen fällt vor allem eines auf: bei keiner hat man das Gefühl sie würde der ganzen Bandbreite Jerry Lee´s Persönlichkeit gerecht. Selten auch seiner wirklichen Bedeutung für die Musikwelt. So wahrscheinlich auch dieser Nachruf nicht, weshalb er auch ein wenig auf sich warten hat lassen.

Jerry Lee Lewis´ Persönlichkeit und Leben waren zu widersprüchlich und lange mehr an den Polen zwischen Himmel und Hölle denn irgendwo dazwischen angesiedelt. Die Jahrzehnte der Eskapaden und Rauschmittel-Exzesse hatten manchen dazu veranlaßt anzunehmen, Jerry Lee wäre schon längst gestorben. Und dieser manche wurde dann doch wieder überrascht, wenn der Name „Jerry Lee Lewis“ von einem Plakat prangte oder ein sichtlich gealterter Jerry Lee irgendwo im TV seine gichtigen Finger über die Tasten fliegen ließ.

Ähnlich seinen Kollegen Elvis Presley oder Little Richard trieb ihm stets die Angst um, der Pakt mit dem Teufel und dessen verbotene Frucht „Rock´n´Roll“ mitsamt einhergehendem impulsiven Lebensstil würde irgendwann seinen Tribut verlangen. Eine Musik die so viele Menschen glücklich gemacht hat, so der betagtere Jerry Lee, konnte letztlich nicht so teuflisch gewesen sein. Und mussten daher im Umkehrschluss von Gott persönlich gekommen sein. Es spricht es für Jerry Lee´s Geisteswelt, dass die letzte musikalische Tat vor seinem Tod die Aufnahme zahlreicher Gospel-Standards gewesen ist. Die offizielle Stellungnahme auf der Homepage des „Killers“ macht auch den Eindruck, als würde noch immer um die Versöhnung mit den engen Moralvorstellungen des evangelikalen Amerikas gerungen.

Dabei waren Jerry Lee´s größte Sünden geradezu Ausdruck seiner sehr einfachen, ländlich-konservativen und bigotten Herkunft (und der damit meist einhergehenden Doppelmoral). Die Ehe des damals 21-Jährigen mit seiner 13-jährigen Cousine Myra, die 1958 fast das vorzeitige Ende seiner Karriere bedeutet hatte widerspricht auch heutigen ethischen Vorstellungen in den allermeisten Teilen der Welt. Die beiden quittierten Kritik daran stets damit, dass das nichts Ungewöhnliches wäre – da wo sie eben herkämen. Ebendort war es schon eher ein Problem, dass der Mann davor bereits 2 mal verheiratet gewesen war. Das erste mal selbst noch als Kind, das zweite mal nicht mal rechtskräftig geschieden.

Nichts liegt mir ferner als Jerry Lee Lewis´ Lebensführung und sein Verhältnis zu Frauen in seinen früheren Lebensjahrzehnten zu rechtfertigen. Es ist allerdings ein in unseren Breiten fälschlicherweise verbreitetes Gerücht, sein Beiname „Killer“ hätte was mit den vielen verstorbenen (Ex)Ehefrauen zu tun. Der Tod naher Angehöriger, wie etwa auch 2 seiner Söhne, sind in erster Linie persönliche Tragödien und weniger geeignetes Thema zur öffentlichen Ergötzung. Seien sie auch indirekte Folge und wiederum Nährfeuer für exzessiven Rauschmittelkonsum und der damit verbundenen Zerstörung des eigenen unmittelbaren Umfelds gewesen.

Doch Jerry Lee´s aufrührerisches Gemüt drückte sich vor allem musikalisch aus. Seine musikalischen Wurzeln liegen erkennbar im Country und religiöser Musik. „Schwarz“ inspirierte Boogie-Woogie-Interpretationen frommer Lieder brachte ihm jedoch den Rauswurf aus einer evangelikalen Schule ein. Spätestens die mehr als nur zweideutigen Hits schwarzer Songwriter „Whole Lotta Shakin´ Goin´ On“ und „Great Balls Of Fire“, 1957 auf Sun Records veröffentlicht, zogen den Unmut seiner bisherigen sozialen Umwelt mit sich. Und sorgten für Verzückung bei den nach sexueller Befreiung lechzenden Teenagern. Die zumindest musikalisch noch ein Quäntchen mehr auf den Punkt gebrachte Donnerwalze „High School Confidential“ floppte letztlich auf Grund des bereits erwähnten Skandals 1958. Jerry Lee Lewis, seine frühen Hits, seine Bühnenperformance und gesamte Erscheinung ließen ihn zum Inbegriff des Rock´n´Rollers und Vorbild nachfolgender Rock-Generationen werden.

Die letzten Lebensjahre Jerry Lee Lewis´ sind gemächlicher verlaufen, von mehr innerer und äußerer Ruhe und offenkundig auch sehr guten Beziehungen zu seiner letzten Ehefrau und seinen Kindern gekennzeichnet gewesen.

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Ich möchte – vielleicht um die Unzulänglichkeiten dieses Nachrufs zu kompensieren – am Schluß persönlich werden.

Als Kind durfte ich die 80er-Jahre in einem Provinznest zubringen. Da gab´s eigentlich nur zwei Möglichkeiten mit Musik in Berührung zu kommen: Über zerkratzte Schallplatten die meine Eltern bei sich zu Hause rumstehen hatten und das Radio. Mein Erweckungserlebnis hatte ich mit 11 oder 12. „Whole Lotta Shakin Goin On“ wirbelte zu später Stunde durch die knarzenden Boxen des Kassettenrecorders den mir meine Mutter zum Geburtstags geschenkt hatte. Das wuchtige Gefühl, dass das rollende und zugleich hämmernde Klavier und der rebellische Ton der Stimme in mir auslöste kann ich heute noch nicht in passende Worte fassen.
Leider war ich zu unterrichtsscheu um richtig Klavierspielen zu lernen. Eine akademische Musikausbildung blieb mir allerdings auch gerade wegen Jerry Lee verwehrt: Als ich bei der Aufnahmeprüfung in der Musikschule vorspielte hab ich die ersten Takte von „Great Balls Of Fire“ rausgekrächzt. „You shake my nerves an´ you rattle my brain…“. Da fiel den Lehrerinnen das sprichwörtliche Kinnladl runter. „Bei uns wirst Du nicht glücklich werden“, meinte die eine, und ich wurde wieder nach Hause geschickt. Ich wußte jetzt (da selbst noch nicht ganz in der Pubertät war mir die sexuelle Tragweite der Angelegenheit noch nicht bewußt): was bei Erwachsenen solche Reaktionen hervorruft muss heißer Scheiß sein. Das war nicht 1959, sondern 1989. Und das gilt auch noch 2022.

Jerry Lee, Du wirst uns eben nicht fehlen, denn Du warst unübersehbar da und hast der Welt unauslöschlich Deinen musikalischen Stempel aufgedrückt.

(J.D.)

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